Urbane Ethiken
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Gedanken zum Care-Begriff und zu den Moralischen Ökonomien in den sozialen Protesten in Russland

9.5.2017 - von Olga Reznikova


„Was bedeutet zabota [Sorge/Care] … hm, was heißt das überhaupt?! Wenn ich so überlege, kann ich dazu nichts sagen. Ich weiß nicht mal, wer sich um wen kümmern muss. Eigentlich, aus der Logik heraus, muss das ja der Staat machen, er muss sich um uns alle kümmern und uns nicht verhungern lassen (…) Andererseits reden jetzt alle, dass wir bei uns selbst beginnen müssen (1). Ich habe keine Ahnung. Vielleicht müssen sich eben alle um alle kümmern? (…) Aber ich will mich eigentlich nicht um alle kümmern, ich will nur so normal leben, und es bringt ja nicht so viel, ich habe auch nicht so viel Kraft, dass ich mich um alle kümmern kann. (…) .. der Staat.. ähh. Andererseits: Wer, wenn nicht wir Ehefrauen, muss sich um unsere streikenden Männer zatotitsja [kümmern/sorgen]? (…) Aber kümmere ich mich um ihn eigentlich? Ich habe mir viele Sorgen [volnovalas‘] um ihn und auch um die anderen gemacht. Zabotitsja [sich um sie sorgen, sich um sie kümmern], das habt eigentlich ihr gemacht, die Frauen, die in Chimki waren (…) Weiß nicht. Eigentlich ist zabota schon etwas, das Frauen mehr machen (…) andererseits sorgen sich (zaborjatsja) sich unsere Männer ja auch um die Zukunft, um das Land, deswegen kämpfen sie ja auch.“

Marina, Ehefrau eines Lkw-Fahrers, die rückblickend über den Streik ihres Mannes reflektiert. Mai 2016.

Der Begriff Care als Analysekategorie wird meist in zwei theoretischen Traditionen gelesen:

1) im Kontext der Kritik an der Begrenztheit der emanzipatorischen Politik auf den Kampf um Gerechtigkeit. Bei der Diskussion um die „ethics of care“ wird dabei die Sorge (Sorge um sich/Sorge um die Anderen) als ein Gegenbegriff zur Gerechtigkeit verwendet. Letztere suggeriere ein autonomes isoliertes Subjekt und verweise nicht auf die Verbindungen und gegenseitigen Abhängigkeiten und Verantwortung zwischen den Subjekten. In dieser Tradition wird den Frauen die Fähigkeit des Sorgens und die Anerkennung der gegenseitigen Abhängigkeit zugeschrieben, die die Beziehungen zwischen den Subjekten nicht auf Fairness reduziert, sondern auch Liebe anerkennt.

2) im Kontext von Diskussionen um Neoliberalismus wird der Begriff Care als Element eines neuen Kapitalismus besprochen, wo jedem Einzelnen die Verantwortung für und die Sorge um die Umwelt, das soziale Wohl, sich selbst und den anderen gegeben wird, sodass sich der Staat von diesen Aufgaben befreien kann und sie auf den Einzelnen überträgt.

Beide Diskussionen um den Begriff haben ein wichtiges Potenzial für Debatten um Ethik in sozialen und politischen Bewegungen und für die Kritik an Ethik. Einerseits wird eine vermeintlich allgemein-universale Ethik der Gerechtigkeit problematisiert als Diskussion zwischen implizit männlichen, als autonom und universal imaginierten Subjekten. Andererseits wird die Ethik im Kontext der Neoliberalisierung als ein Legitimierungsinstrument der Responsibilisierung gesehen. Wir können versuchen, die beiden Care-Diskussionen zusammen zu denken, so wie es manche feministische Denker_innen (bspw. Judith Butler, Isabell Lorey u.a) tun, und durch die Anerkennung der gemeinsamen Gefährdung aller Menschen dann die Sorge um sich und um einander als eine Strategie des Widerstandes gegen die zunehmende Prekarisierung bezeichnen.

Es scheint, dass sich Marina in ihren Überlegungen über zabota auch auf einer ähnlichen Suche nach einer Erklärung befindet und zwar darüber, wer sich um wen kümmern soll und kann. Sie wiederholt in unserem Gespräch mehrmals, dass sie früher nie darüber nachgedacht habe, und erklärt damit ihre scheinbar widersprüchlichen Überlegungen, die sie auch später im Gespräch so bezeichnet. Sie versteht zabota einerseits als eine weibliche Tätigkeit, andererseits als eine Strategie für den Kampf um Gerechtigkeit, den ihr Mann führt. So sagt sie später:

„Sie [ihr Mann und seine Mitstreiter] versuchen, sich um die Ärmsten in Russland zu kümmern, es geht um Gerechtigkeit, denke ich. Eigentlich ist das nicht die Frage dieses Kampfes, es geht um die Einstellung. Wir müssen uns um die Schwachen kümmern, um die Armen (…) und wir müssen kämpfen für unsere eigenen Rechte. Beides irgendwie“.

Drittens versteht sie zabota als Aufgabe des Staates, die Bürger, also „uns nicht verhungern zu lassen“. Dabei versteht sie zabota eher als Arbeit (weniger als Liebe), die die soziale Ordnung um sie herum gerechter machen kann. Gleichzeitig soll diese Arbeit ein Patron ausführen (entweder der Staat oder „der Stärkere“), das Objekt der zabota sind dabei alle Menschen:

„(…) um uns alle muss sich gekümmert werden … Und das ist auch der Grund, warum es nicht alle machen können. Woher soll ich zum Beispiel wissen, was die behinderte alte Frau in einem kleinen Dorf braucht? Das weiß ich nicht, auch mein Mann nicht. Ich weiß aber, was kleine Kinder brauchen.“

Während in den angeführten theoretischen Überlegungen über die gemeinsame Prekarisierung versucht wird, die konkrete Formen der Unterdrückung, der Ungleichheit und der Ausbeutung unter einem Begriff zu vereinen, ist für Marina zabota immer schon ein Teil der Gerechtigkeitsfrage und ihre Praxis. Auch eine zweite Differenz fällt auf: Während in der feministischen wissenschaftlichen Diskussion über die ethics of care (auch unter dem Begriff „solidarische Ethik“ verwendet) eine weiblich geprägte Form des Miteinanders idealisiert wird, die nicht auf Aushandlung und Einforderung der Gerechtigkeit zwischen den Subjekten, sondern letztendlich auf Liebe basieren soll, sowohl in den 1980er-Jahren, als auch heute, dann bezieht sich Marina in ihren Überlegungen eher auf paternalistische Beziehungen zwischen den Subjekten: Der Patron, der den Staat verkörpert, soll die Gerechtigkeit ermöglichen.


Der Begriff zabota wird in der postsowjetischen russischsprachigen Soziologie und Kulturwissenschaft vor allem als Ausdruck des „sowjetischen Erbes“ in Form der Unterentwicklung bzw. Nicht-Entwicklung der Selbst-Verantwortung in der postsowjetischen Gesellschaft analysiert. Die Proteste, die sich seit 2015 mit neuer Kraft in Russland als sog. „soziale Proteste“ ausbreiten, verwenden den Begriff zabota aber positiver. Dabei verstehen nicht nur die Ehefrauen der streikenden Lkw-Fahrer, die sich als Frauen als besonders zu Care verpflichtete Subjekte sehen, sondern auch die Streikenden selbst zabota als eine Pflicht, und zwar sehen sie es vor allem als eine Aufgabe des Staates. Und genau diese Sicht auf zabota macht die Trennung zwischen den sog. liberalen und sozialen Protesten so evident. Der Kampf um Gerechtigkeit, wie auch Marina es formuliert, ist eine Aufgabe von allen, ihre Durchsetzung in Form von Care ist die Aufgabe des Patrons. Die Ablehnung dieses Verständnisses von spravedlivost‘ (Gerechtigkeit) und zabota in den sozialen Protesten wird von anderen, eher liberal orientierten (z.B. gegen Putin) Protestierenden als Beleg für „Unreife“ gedeutet und abgewertet: es sei eine Strategie, „den Zaren zu bitten“. Die erste Welle von Vorwürfen dieser Art wurde gegenüber den Lkw-Fahrern geäußert, die seit Ende 2015 gegen die Einführung des Mautsystems für Lkws protestierten. Da sie ihren Protest mit einem Aufruf an Putin begonnen hatten, nahmen die meisten Moskauer Protestgruppen sie als nicht weit entwickelte, eng und „pro-Putin denkende“ Menschen wahr:

„Schon wieder. Schon wieder dieses Volk, das zum Zaren geht und sich über die Bojaren beschwert. Ein guter Zar und böse Bojaren (...) Immer das gleiche. In der zaristischen Zeit und auch unter Stalin, als ob er [Stalin] nichts wusste. Und jetzt wieder. Als ob Putin nicht … Echt lächerlich.“

So bewertete zum Beispiel Maria Anfang 2016 die Forderung der Lkw-Fahrer, dass Putin ihnen helfen solle. Maria ist eine Person, die vor allem gegen politische Repressionen und gegen den Krieg in der Ukraine sowie gegen Willkür, imperiale Gewalt und die Repressionen in der Krim protestiert. Dieser Widerspruch zwischen den Protestierenden lässt sich nicht einfach auflösen, vor allem, weil die beiden Positionen über Care eine ideologische Scheidelinie aufzeigen (wenn sie auch heute bei der Suche nach einem Anti-Putin-Konsens nicht immer sichtbar ist). Aber die Auseinandersetzung um zabota und die Erwartungen an die paternalistische Regulierung von Ungerechtigkeit verweisen auf die widersprüchlichen Formen der Aushandlung der autonomen, selbstverantwortlichen, liberalen Subjekte im postsowjetischen Russland und die Bedeutung von ethischen Konzepten in diesem Zusammenhang. Die Moralische Ökonomie der Lkw-Fahrer setzt Konzepte von Sorge/Care/Verantwortlichkeit voraus, der die Verantwortung für soziale Gerechtigkeit bei der Regierung sieht, oft personifiziert durch den Präsidenten. Dieser Care-Begriff verweist auf den zabota-Begriff aus den sowjetischen Zeiten, der ideologisch auf Patronage basierte („die Partei kümmert sich um alle sowjetischen Bürger“). Mit dem Care-Begriff konkurriert in den russischen Protesten der ethische Begriff der „Selbstverantwortung“, der sich vor allem auf die Ideologie „der kleinen Taten“ stützt.

Die Analyse der Moralischen Ökonomien im postsowjetischen Russland als eine 1) rückwärtsgerichtete, 2) für die Gerechtigkeit kämpfende und 3) an den Patron gerichtete Protestform muss die Aushandlungen und die Praxis von zabota beinhalten. Und zwar nicht nur in Bezug auf die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit innerhalb der Klassengesellschaft, sondern auch in Bezug auf die unsichtbare Care-Arbeit neben dem Protest: „Eigentlich kann ich so im Großen und Ganzen viel philosophieren. Aber normalerweise meine ich bei der Verwendung des Worts zabota‚ sich um die Kinder oder um meine Mutter zu kümmern‘.“ (Aus dem Interview mit Vika, der Ehefrau eines anderen streikenden Lkw-Fahrers).