Urbane Ethiken
print

Links und Funktionen
Sprachumschaltung

Navigationspfad


Inhaltsbereich

Vom widerspenstigem Erbe – die Istanbuler Landmauer

23.1.2017 von Julia Strutz

Ihr sauberer, gelblicher Sandstein und ihre lückenlose Perfektion läßt kaum erahnen, dass diese Befestigungsanlage aus dem 5. Jahrhundert stammt. Über Jahrhunderte galt die Mauer, die das byzantinische Konstantinopel zu Land und zu Wasser schützte, als unbezwingbar. Umso größer war der Respekt, der ihre Überwindung 1453 dem Osmanischen Sultan Mehmet II. verlieh.

Die Istanbuler Landmauer symbolisiert gleich zwei Weltreiche, beide gefallen und noch dazu Gegner, die nicht gemeinsam erinnert werden können. Die Mauer symbolisiert aber noch etwas Drittes: die Unfähigkeit der türkischen Republik mit diesem Erbe irgendetwas anzufangen. War nicht das Osmanische Reich und all das Negative, das damals mit ihm assoziiert war, gerade erst überwunden? Und Byzanz? Durfte das von der jungen Republik als nationale Geschichte beansprucht werden oder „gehörte“ das einer anderen Nation? Für welches Erbe sollte die Mauer stehen? Das Erbe der Mauer ist widerspenstig und so blieb auch das Verhältnis der frühen Republik ihr gegenüber unentschlossen.

Dieser Unentschlossenheit ist es wohl zu verdanken, dass die Mauer nicht – wie in so vielen anderen Städten – einer Ringstraße weichen musste. Die Lücke in der staatlichen Erinnerungsarbeit erlaubte dafür die Aneignung der Mauer durch Teile der Bevölkerung, die von ihrer „Dicke“(1) profitieren konnten: Die Istanbuler Landmauer besteht tatsächlich aus zwei Mauern und einem Graben und bietet so Orte, die von außen nicht einsehbar sind. Die Mauer wird ein Unterschlupf für Zuwanderer, Obdachlose, Straßenkinder und ein Ort, der Platz bietet für das Verbotene: Liebeseskapaden, ungestörten Drogen- und Alkoholkonsum. Die Mauer wird bewohnt, in ihrem Graben Gemüse angebaut. Die „dicke“ Mauer gehört dem „anderen Istanbul“, dem Istanbul der Zuwanderer, der informellen Ökonomie. Sie ist ein unmoralischer Ort.

Daran ändert sich zunächst auch nicht viel, als die Mauer in den Fünfzigerjahren als nationales Erbe im Kurs zu steigen beginnt. Das imperiale Erbe Istanbuls ist für den damaligen Premierminister Adnan Menderes ein gutes Instrument, um sich von dem radikalen Modernisierungsprogramm der frühen Republik abzugrenzen. So werden die Feierlichkeiten zum 600. Jahrestag der Eroberung Istanbuls durch die Osmanen zu einem Wendepunkt in der Erinnerungspolitik. Menderes lässt sich nicht nur selbst als (Wieder-)eroberer Istanbuls feiern, er wagt sich auch an das Erbe der Eroberung – die Mauer - heran. Paradoxerweise sind es Menderes städtebauliche Projekte, die in den Fünfzigerjahren breite Einfallstraßen durch die historische Stadt schlagen und Baudenkmäler im großen Stil vernichten – darunter zwei Durchbrüche durch die Mauer.

Dennoch bliebt die Mauer eine Schwelle zwischen dem historischen Stadtzentrum und seiner Peripherie. So lässt sich die Entscheidung 1971, in der unmittelbaren Peripherie der Stadt einen Busbahnhof anzulegen, leicht nachvollziehen. Buchstäblich vor den Toren der Stadt, wird die „Topkapı Garajı“ zum Tor zur Stadt: In der Hochphase der Zuwanderung nach Istanbul, ist der Busbahnhof der erste Ort, den Menschen, die in den Siebziger- und Achtzigerjahren in der Stadt ankommen, zu sehen bekamen. 1976 sind das täglich 80 000 Reisende aus Thrakien und dem westlichen Ausland (2). Für die meisten muss diese erste Begegnung mit der Stadt eine Enttäuschung gewesen sein. Istanbul, die Stadt, deren Steine sprichwörtlich aus Gold seien, hält ihr Versprechen nicht: ein brechend voller Busbahnhof, der Kampf um das richtige Ticket, Gedrängel beim Aussteigen, lauthalse Werbung der Straßenverkäufer, stundenlanger Stau bei Aus- und Einfahrt aus dem Bahnhof, Müll, stinkende Toiletten. Zeitungsartikel, die über den Zustand im Busbahnhof berichten, machen das ungebührliche Verhalten der Straßenverkäufer und derer Kunden dafür verantwortlich. Sie benutzen dabei allzu bekannte Beschuldigungen: Zuwanderer äßen gerne Fleischspeisen (lahmacun), die – so der Autor – sehr lästig stänken. Und ausserdem hörten sie diese unerträgliche, provinzielle Musik (arabesk)(3). Der Topkapı Busbahnhof ist wie ein Vorgeschmack auf die gesellschaftliche Position, die Zugewanderten in Istanbul zuteil wird.

Landmauer blog 1

Topkapı in den Achtzigern: Informeller Handel und Busbahnhof im Schatten der Mauer (Quelle: http://eistinpolin330.blogspot.de/2012_07_01_archive.html)

Doch damit nicht genug. Informelle Märkte mit mehr oder wenig provisorischen Ständen zieht Nutzen aus dem Andrang um den Busbahnhof einerseits und der „Dicke“ der Mauer andererseits. Hier wird verkauft, was andere auf den Müll geschmissen hatten oder nur in Abwesenheit von Steuern und Mieten so billig verkauft werden kann. Topkapı ist ein Knotenpunkt des informellen Istanbuls und sichert das Auskommen vieler Neu-Istanbuler_innen.

Für die Stadtverwaltung und das Establishment freilich ist das Ensemble aus Mauer, Busbahnhof und Trödelmärkte der Inbegriff der schlechten Stadt. Das Problem „Busbahnhof“ war dabei vielleicht am leichtesten zu bewältigen: 1994 wir ein neuer Bahnhof in der westlichen Peripherie eröffnet und die Busfirmen ziehen nach einigem Murren schließlich komplett um. Der Markt allerdings hält sich hartnäckig und auch die Mauer bleibt widerspenstig. Weiterhin ist sie ein unmoralischer Ort, voll von Aktivitäten, die dem Erbe der Mauer nicht gerecht werden.

Um diese Orte und ihre Erinnerung vollständig zu vernichten, müssen sie mit neuen Erinnerungen überschrieben werden. Was würde sich für die islamisch-konservative Regierungspartei AKP besser eignen als die Geschichte der Eroberung Istanbuls? Ähnlich wie Menderes, hatten der politische Islam und der damalige Bürgermeister Istanbuls Recep Tayyip Erdoğan, sich dieses Motiv angeeignet. Die Eroberung Istanbuls steht dabei für die Rückeroberung der Stadt aus den Fängen der kemalistischen Eliten, der Reichen, der selbst erklärten guten Städter. Sie versprachen, ein Istanbul zu schaffen, welches die Zuwanderer nicht mehr ausgrenzen würde, welches ihre Lebensweise nicht mehr verlachen und ein gutes Leben gemäß religiöser Regeln wieder ermöglichen würde. So gewannen sie die Lokalwahlen 1994. Nicht die Mauer selbst, sondern ihre Eroberung, wurde zum Denkmal. Diese Erinnerung wird seither jährlich in immer pompöserem Ausmaß inszeniert.

Landmauer blog 2

Errichtung eines Modells der Mauer anlässlich der Feierlichkeiten zum 653. Jahrestag der Eroberung Istanbuls (geteilt von hayalet_fan in twitter, 27.05.2016)


Die Lücke, die der Busbahnhof hinterließ, wurde durch das „Panorama 1453“ -Museum gefüllt. Im Schatten der Mauer kann der Besucher sich national erhoben fühlen, wenn Istanbul unter Bombenschlägen und Kriegsgeschrei in 360° bezwungen wird. Und das nur einen Steinwurf entfernt von dem Ort, an dem dies tatsächlich stattgefunden hat! Das Gelände des ehemaligen Busbahnhofes und des Trödelmarktes wurde außerdem mit einem Parkgelände überschrieben. Im „kültür parkı“ soll nach dem Museumsbesuch zwischen sehr geordneten Blumenbeeten, sauber abgetrennten Wiesenflächen, Meeren aus Tulpen und lieblich plätschernden Springbrunnen herumgewandert werden. Die „Osmanischen Häuser“ (Osmanlı Evleri) im Park laden zu einem Glas Tee im neuen Vernikular des türkischen Volkes. Doch das Wichtigste: Nichts erinnert mehr an den Busbahnhof.

(1) Franck Dorso, ‘Un Espace Indécis Au Coeur d’Istanbul. La Muraille de Théodose II En 2001.’ (Institut français d’études anatoliennes, 2003), http://www.ifea-istanbul.net/dossiers_ifea/Bulten_Y-1.pdf.
(2) Milliyet Gazetesi 03.09.1976, Her gün 80 bin yolcunun gidip-geldiği Topkapı garajı keşmekeş halinde (“Die Topkapı garajı, an der jeden Tag 80 Tausend Reisende ankommen und abfahren, ist ein riesen Kuddelmuddel“)
(3) Milliyet Gazetesi 12.07.1990, Söz okurun (“Leserbriefe”)