Urbane Ethiken
print

Links und Funktionen
Sprachumschaltung

Navigationspfad


Inhaltsbereich

Konsens als Entmächtigung

23.5.2016 von Jeannine-Madeleine Fischer

Als am 28. November 2015 anlässlich der Klimakonferenz in Paris weltweit zum Klimamarsch aufgerufen wurde, versammelten sich in Auckland tausende DemonstrantInnen im zentral gelegenen Albert-Park. Wie in ganz Neuseeland bei öffentlichen Veranstaltungen üblich, begann das Event mit einer Māori-Begrüßung, die der Sprecher mit den Worten beschloss: „Thank you so much for coming and supporting our pro-, I was just about to say protest, but we're not meeting for a protest, we are meeting for a hui (1)!“ Die Menge jubelte Beifall und die Protest-Slogans auf den zahllosen Plakaten schienen sich in Symbole einer sozialen Gemeinschaft zu verwandeln, in manifeste Sinnbilder der hier konstruierten Hui. Seine tuvalonesische Nachsprecherin hielt direkt im Anschluss eine leidenschaftliche Ansprache über die befürchteten Auswirkungen des Klimawandels auf ihrer verarmten Heimatinsel, und kritisierte die Politik der gegenwärtigen Regierung als umweltverschmutzend und soziale Ungerechtigkeit stiftend. Offensichtlich hatte diese Veranstaltung Protestcharakter, war von Wut, Unzufriedenheit und Kritik motiviert – aber die Eröffnungsworte, die ich als richtungsgebende Einleitung verstehe, waren von beschwichtigender, ja konsensualisierender Qualität. Sie dienten nicht der Aufladung einer hitzigen Stimmung energiegeladenen Widerspruchs für den nachfolgenden Marsch, sondern betonten die Gemeinschaftlichkeit unter den TeilnehmerInnen. Dabei greift dieser Solidarisierungsmechanismus über den Kreis der DemonstrantInnen hinaus; die Umdefinierung der Zusammenkunft als Hui macht die im Protestbegriff eingeschlossene Gegenposition, die in diesem Fall durch die gegenwärtige Regierung repräsentiert wird, hinfällig und entzieht oppositionellen Rollen die Grundlage. Eine Hui ist an Gemeinschaftlichkeit orientiert und bietet keinen geeigneten Raum für Konflikte und Konfrontationen. Dass die hier verwässerte Trennlinie durch die zweite Rednerin wieder nachgezogen wird, verweist auf die Komplexität und Mehrdeutigkeit der mit der Veranstaltung verknüpften Vorstellungen.

Die konstruierte Gemeinschaftlichkeit basiert auf der Annahme einer geteilten Grundüberzeugung über das 'Gute', sei das nun Klimaschutz, Bewahrung nativer Pflanzen oder Mülltrennung – man macht mit, weil man die Zielvorstellungen als 'gut' befindet. Der Konsens etabliert sich zum Stifter einer verbindlichen Gruppenidentität, deren Infragestellung gleichzeitig die ganze Gemeinschaft in Zweifel ziehen würde. Dieser Verpflichtungscharakter macht den Konsens instrumentalisierbar: der Kategorie des 'Guten' können viele Vorstellungen zugeordnet werden, die ganz unterschiedliche, durchaus divergierende Ziele verfolgen.

Auf Stadtregierungsebene verweist der sogenannte ‚Auckland Plan‘ auf einen als allgemeingültig angenommenen Konsens: „ONE common purpose: to make Auckland the WORLD’S most liveable city and deliver Aucklanders great value for money.“ (2) 'Liveability' wird hier als kollektiv geteiltes Ideal der städtischen Akteure konzipiert; dabei bezieht sich der abstrakte Begriff auf die in umfangreichen Kapiteln beschriebenen Ziele des Stadtentwicklungsplans. Offensichtlich sollen sich zukunftsgerichtete Ideale unter dieser singulären Leitlinie subsumieren lassen. Dabei artikulieren sich gerade in der Liveability-Debatte kontroverse Wertvorstellungen: entsprechen etwa Housing-Pläne dem Konzept der ‚guten Stadt', da sie zur Beherbergung der stetig wachsenden Bevölkerung beitragen, oder wird die Bewahrung kulturell und ökologisch bedeutsamer Flächen dem Liveability-Gedanken eher gerecht? Diese Frage stellt sich im öffentlichen Diskurs um Ihumatao, Māngere: AktivistInnen versuchen, ein millionenschweres Housing-Projekt auf konfisziertem Māori-Land zu verhindern; woraufhin der Stadtrat im Februar eine Anhörung der beiden KontrahentInnen (Real Estate Fletcher versus SOUL: Save Our Unique Landscape) einberief. Eine halbe Stunde vor Beginn des formalen Meetings versammelten sich die Mitglieder zu einem lautstarken Protestmarsch vor dem Stadtrat, der auch im Sitzungssaal noch deutlich zu hören war. Die Atmosphäre im Ausschuss war sehr formal: das zumeist männliche Publikum erschien größtenteils in Anzug und Krawatte, die Sitzordnung des Panels war festgelegt und die auf einer 50-seitigen Erklärung festgehaltenen Redebeiträge detailliert geplant. Als nach einer Stunde plötzlich die Tür aufgerissen wurde und ein junger Māori mit seiner Tochter auf dem Arm in den Verhandlungsraum platzte, herrschte zunächst Überraschung. „I just want to let you know“, rief dieser selbstsicher und unterbrach die Stadträtin mitten im Satz. Als sie ihn zu übertönen versuchte, wurde er lauter: „No, I just want to let you know: What you are doing is wrong! If you want to develop this land, go right ahead and you will see two hundred of us occupying our land at Ihumatao.“ Inzwischen hörten alle widerspruchslos zu. „How would you like it if these fellows came to your burial ground and built on top of your ancestors? How would you like it if they built a house on top of your children? That's not right, eh?“ Die Sicherheitsbeamtin, die während der ganzen Veranstaltung vor der Tür Wache stand, hatte den Raum inzwischen betreten, ohne sich einzubringen. Nachdem der spontane Redner seinen Beitrag selbst abgeschlossen hatte, verabschiedete die Stadträtin ihn mit den Worten „Thank you“. Aus dem Publikum, in welchem auch SOUL-Mitglieder saßen, ertönte ein anerkennendes „Kia ora“. (3)


Dieser offensichtliche Bruch wurde einfach normalisiert und in das Konzept der VeranstalterInnen integriert. Die formale Verabschiedung und nahtlose Wiederaufnahme der Besprechung illustriert den Konsensualisierungsprozess eindrücklich. Der Aktivist konnte seine Rolle als störender Akteur nicht beibehalten, da sie widerstandslos in das Setting integriert wurde: divergierende Perspektiven wurden unter dem von dominanten Strukturen bestimmten Konsens subsumiert und damit unsichtbar gemacht. In diesem Sinne kann der Konsens politisch instrumentalisiert werden, um heterogene Interessen zu homogenisieren, und ihnen damit die eigene Wirkmacht zu entziehen.

(1) Eine 'Hui' bezeichnet eine soziale Zusammenkunft; der Begriff stammt aus dem Māori, wird aber landesweit und 'über-ethnisch' verwendet.

(2) Zitiert nach dem Bildschirmschoner des Council-Computers, 03.02.'16, Hervorhebungen im Original.

(3) Kia ora ist eine sehr geläufige Begrüßungs- und Abschiedsformel, die sich mit ‘Möge es dir gut gehen’ übersetzen lässt.