Urbane Ethiken
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Von „Menschen in Not“ und „Vermietern mit Herz“ in München

14.6.2016 von Laura Gozzer


Im Zuge einer Medienrecherche in der Münchner Abendzeitung stoße ich auf das Portrait einer Familie auf Wohnungssuche. Unter dem Titel „Zimmer Nummer 1008: Hier lebt eine Familie auf zwölf Quadratmetern“ wird die Notsituation einer Mutter und ihren jugendlichen Kindern beschrieben.


„Stefania und ihr Bruder Pascal wollen keine Freunde mit nach Hause bringen. Die Teenager schämen sich, denn die Geschwister müssen mit ihrer Mutter in einer Obdachlosenunterkunft leben. Zu dritt auf zwölf Quadratmetern, seit drei Jahren ohne Privatsphäre – aber trotzdem immer mit der Hoffnung auf eine bessere Zukunft.“ (1)


Die häufig reißerischen Titel dieser und ähnlicher in monatlichen Abständen in der Abendzeitung veröffentlichten Sozialreportagen zu Wohnungsnot regten mich zu einer genaueren Betrachtung an: Für wen wird hier auf welche Weise gesprochen? Wie werden Problemlagen in Bezug auf Wohnen identifiziert? Wer wird als Verantwortliche(r) für die Wohnungsnot der jeweiligen Individuen verstanden? Und wo werden Auswege lokalisiert?(2) Zunächst einmal fällt auf, dass eine Reihe sich gleichender Portraits mit dem Verweis auf ein Inserat in dem Online-Immobilienportal Verändere deine Stadt verknüpft ist, wie auch im vorliegenden Beispiel: „Über die immowelt.de-Initiative ‚Verändere deine Stadt‘ sucht die Mutter dringend eine Wohnung im Münchner S-Bahn-Bereich.“ (3) Um welche Art von Initiative handelt es sich? In der Online Präsentation von „Verändere deine Stadt“ ist zu lesen:


„Heimatlos, alleinerziehend oder arm? Menschen, die aus dem Raster fallen, haben oft große Schwierigkeiten eine Wohnung zu finden. Dabei gibt es viele Vermieter, die gerne helfen würden. Auf ‚Verändere Deine Stadt‘ inserieren Menschen in Not ihr Raumgesuch und Vermieter mit Herz ihre Angebote kostenfrei.“ (4)


Die „soziale Initiative“ wurde im Dezember 2013 vom Vorstand des Immobilienportals Immowelt.de der Öffentlichkeit präsentiert. Angesichts der zunehmenden Verschärfung der „Situation auf dem Wohnungsmarkt […] in Ballungsgebieten“ gehe es den Initiator_innen darum, eine kostenfreie Plattform für Wohnungssuchende und -bietende in Berlin und München zu schaffen. (5) Mit der Bewerbung eines sozialen Ablegers folgt Immowelt.de einer Tendenz unter privatwirtschaftlichen Unternehmen, ethisch argumentierte Projekte zu lancieren, die nicht zuletzt Symbolpolitiken dienen.


Aber zurück zu den Portraits: Wohnungssuchende werden auf der Homepage von Verändere deine Stadt ausführlich mit Bildern und Videos dargestellt. Gekürzt finden sich einige davon in der Abendzeitung wieder. Die biografischen Situationen der Einzelnen werden ebenso alltagsnah und atmosphärisch beschrieben wie die Wohnverhältnisse:


„Selbst wenn draußen die Sonne scheint, ist es in dem kleinen Zimmer dunkel, es ist nicht viel größer als eine Gefängniszelle. Den ganzen Tag brennt das Neonlicht, meist läuft der Fernseher. Es ist ein trostloses Leben das Efterpi aus Griechenland mit ihren beiden Kindern führt.“ (6)


Der Sohn grenze sich mithilfe von Kopfhörern ab, die Tochter klage über den Schmutz im Zimmer. Die Mutter bemühe sich zwar, die Situation in den Griff zu bekommen, fühle sich aber „antriebslos“ und „ausgeliefert“: „‚Diese Situation macht mich so furchtbar traurig. […] Es ist ein Teufelskreis‘, erzählt die Alleinerziehende und nimmt liebevoll ihre Tochter in den Arm.“ (7) Bei den Beschreibungen wird deutlich, was Wohnen eigentlich bedeutet. Es geht eben nicht nur darum, ein Dach über dem Kopf zu haben, sondern auch um emotionale Befindlichkeiten der Wohnenden, um ihre sozialen Beziehungen, um ihr Verhältnis zum Selbst und um einen Platz – nicht nur in der Stadt, sondern in der Gesellschaft. Der Verlust der stabilen Wohnsituation wird in Zusammenhang mit einer Erosion der gesellschaftlichen Einbettung der Familie in sozialer und ökonomischer Hinsicht gesehen. Nach der Trennung von ihrem Mann und dem Verlust ihres Arbeitsplatzes erhält die Mutter sozialstaatliche Unterstützung, was sich wiederum als Nachteil bei der Wohnungssuche entpuppt.


„Obwohl sie auch ins Umland ziehen würden, hat die Familie noch keine 3-Zimmer-Wohnung gefunden. Immer wieder kommen Absagen. ‚Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass das Amt uns unterstützen würde. Aber ich fange demnächst mit dem Busführerschein an, dann verdiene ich wieder gut‘, erklärt Efterpi.“ (8)


Die wohnungssuchenden Subjekte stellen hier wie auch in anderen Portraits durch gesellschaftliche Stigmatisierung oder ökonomischen Mangel vom Mietmarkt Ausgeschlossene dar. Dabei folgt die Beschreibung den guten Eigenschaften der Betroffenen – bemüht, fleißig, sorgsam oder liebevoll – und präsentiert sie als redliche Personen. Sie stehen skrupellosen Vermieter_innen sowie Investor_innen gegenüber, und weder Stadt noch Hilfsorganisationen scheinen als zuverlässig fürsorgende Größen angemessen zu reagieren. Bedürftigkeit wird in diesen Narrationen mit Machtlosigkeit seitens der ‚Opfer‘ angesichts einer ungerechtfertigten Exklusion vom Wohnungsmarkt verknüpft. Der Slogan „Verändere deine Stadt“ richtet sich nicht an sie, sondern an kapitalstarke Akteur_innen: In den Berichterstattungen und im Rahmen der Initiative wird an das Gewissen von Eigentümer_innen, Makler_innen oder Genossenschaftsvorstände appelliert. Sie werden dazu angehalten, nicht nur auf das (ökonomische) Eigeninteresse, sondern auch auf das Gemeinwohl in ihrer jeweiligen Stadt zu achten, ergo: ethisch zu handeln. „Denn wer hinsieht, hilft und handelt, macht aus seiner Stadt einen liebens- und lebenswerteren Ort.“ (9) In diesem Beispiel ist es eine Maklerin, die der Familie aus der Misere hilft. Knapp zwei Monate nach dem ersten Artikel wird in der AZ vom Wohnungswechsel berichtet.


„Dass die Familie endlich der furchtbaren Enge entfliehen kann, hat sie der Maklerin Sabine Feldmann zu verdanken. Die 49-Jährige betreut für die Gagfah Group – mit bundesweit rund 144.000 Mietwohnungen eines der führenden börsennotierten Wohnungsunternehmen in Deutschland – die sozial geförderten Objekte im Großraum München. ‚Für mich ein ganz neues Feld, denn sonst vermitteln wir eher hochpreisige Immobilien‘, schildert sie. Auf der Suche nach passenden Mietern stieß sie auf die immowelt.de-Initiative und erfuhr so vom Schicksal der Alleinerziehenden und ihren Kindern: ‚Ich wusste sofort: Für die drei habe ich genau die passende Wohnung.‘“ (10)


Neben den schutzlosen, ohnmächtigen, bedürftigen Subjekten werden über die Portraits – das sieht man in der vorangestellten Sequenz - auch karitative, moralisch agierende Subjektformen hergestellt. Man fühlt sich an das 19. Jahrhundert zurückerinnert, an die bürgerliche Fürsorge für Arme und Arbeiter_innen, das Einstehen der (auch paternalistisch agierenden) Starken für die Schwachen.


„Wir freuen uns sehr, dass dieser Albtraum zu Ende ist. Wir haben eine zweite Chance zum Leben bekommen“, hört man die Mutter des hier vorgestellten Portraits in einem Video auf der Homepage der Initiative sagen. Parallel dazu lachen sie und die beiden Jugendlichen in die Kamera. Das Logo von „Verändere deine Stadt“ erscheint. (11)

(1) Uhrig, Andrea (2015a): Zimmer Nummer 1008: Hier lebt eine Familie auf zwölf Quadratmetern. In: AZ, Nr. 95/17, 25.04.2015, Ressort München, S. 3.
(2) Die Portraits werden im Teilprojekt „Wohnen und Wohnraumpolitik in München“ der DFG-geförderten Forschergruppe „Urbane Ethiken“ an der LMU München als eine Form der ethischen Problematisierung des Münchner Wohnungsmarkts analysiert. Im Rahmen des Forschungsprojekts interessieren wir uns für (ethische) Subjektformen, die in dieser Form der Präsentation von Wohnungsnot in München hergestellt werden.
(3) Uhrig 2015a.
(4) http://www.veraendere-deine-stadt.de/ (Stand: 08.06.16).
(5) Laufer, Luise (2013): ‚Verändere deine Stadt‘: immowelt.de startet erste Sozialraum-Plattform für München. Online: http://presse.immowelt.de/pressemitteilungen/ag-meldungen/artikel/artikel/veraendere-deine-stadt-immoweltde-startet-erste-sozialraum-plattform-fuer-muenchen.html (Stand: 08.06.16).
Seit Dezember 2014 gibt es „Verändere deine Stadt“ auch für Nürnberg. Auf der Homepage der Initiative sind außerdem Analysen zur Wohnmarktsituation in sieben deutschen Großstädten einzusehen. Vgl. https://www.veraendere-deine-stadt.de/ (Stand: 08.06.16).
(6) Uhrig 2015a.
(7) Ebd.
(8) Ebd.
(9) https://www.veraendere-deine-stadt.de/ (Stand: 08.06.16).
(10) Uhrig, Andrea (2015b): Zu dritt auf zwölf Quadratmetern. Jetzt hat’s ein Ende. In: AZ, Nr. 133/24, 13.06.2015, Ressort München, S. 8.
(11) http://news.veraendere-deine-stadt.de/muenchen/menschen-in-not/artikel/0213-raus-aus-der-obdachlosigkeit-alleinerziehende-mutter-hat-endlich-wieder-eine-wohnung.html (Stand: 08.06.16).