Urbane Ethiken
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Moskau: Urbane Ethik des Protests und Gewalt der Ethik (2015 - 2018)

«Вы нас не представляете!» riefen die Protestierenden 2011 in Moskau auf einer der größten Demonstrationen, die im postsowjetischen Russland je standfanden. Damit wurde zum einen die politische Repräsentationsfrage aufgeworfen („Ihr repräsentiert uns nicht!“), zugleich aber auch eine neue Macht des Straßenprotests angedroht (der Satz lässt sich auch im Sinn von „Ihr könnt euch nicht vorstellen, wozu wir imstande sind“). Immer wieder war damals auch «Это наш город» („Das ist unsere Stadt“) zu hören. Die Auseinandersetzung um die Stadt und die politische Repräsentation wurde und wird oftmals als Frage der Ethik verhandelt: Eine Zeitung betitelte einen Artikel 2013 mit „Der Kampf heute geht nicht um Politik, sondern um Ethik“ („Борьба сегодня идет не за политику, а за этику“). Ethik war und ist für die Protestbewegung - wie für viele Bewegungen vor ihr - offensichtlich eine wichtige Ressource, um die Staatsmacht infrage zu stellen, aber auch zur Abgrenzung zum passiven, manipulierten народ (Volk), das das System unterstütze.

In unserer Forschung fragen wir,

… wie die Protestaktivitäten und die damit verbundene soziale Kreativität die Stadt Moskau und Vorstellungen von gutem städtischem Lebenverändern. Nach der ersten großen Protestwelle, im Kontext von starker Repression und später dann Krieg, schienen auch städtische Institutionen die partizipative, „gute“ Stadt als Ziel zu entdecken. Deshalb fragen wir auch nach der Entstehung von neuen partizipativen Projekten, Bürgerinitiativen, Parks, Fahrradwegen usw. Wie werden Projekte für ein besseres Moskau von verschiedenen Akteur_innen definiert? Wer soll dabei von wem aktiviert werden und wie werden diese Angebote angeeignet?

… welche Bedeutungen mit der Figur des „aktiven Bürgers“ und der „aktiven Bürger_in“ verbunden werden. Diese Figur ist unserer Beobachtung nach in besonderem Maße durch ein ethisches Selbstbild gekennzeichnet. Welche Effekte entstehen durch diese Betonung von Ethik und Aktivität? Welche Grenzen und Ausschlüsse werden dadurch möglicherweise zugleich erzeugt?

Mit Hilfe von ethnographischer teilnehmender Beobachtung und Diskursanalyse versuchen wir die Komplexität der Praxis der Proteste und ihren Zusammenhang mit urbanem Leben in Moskau zu verstehen. Mit dem Fokus auf Ethik und Gewalt wollen wir zugleich einen Beitrag zu Diskussionen um Dominanzverhältnisse leisten.